Leserbrief zu den Artikeln "Wenn Kinder sich verlassen fühlen" und "Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern hält Kinder in Hartz IV" in der WAZ vom 26.09.2016

 

Nicht die Hartz IV-Kinder stinken, sondern die Politik

 

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

in der WAZ vom 26.09.2016 befand sich ein Artikel mit der Überschrift "Wenn Kinder sich verlassen fühlen". In dem vorgenannten Artikel werden zwei Damen vorgestellt, die eine ist Leiterin einer Kindertagesstätte im östlichen Ruhrgebiet, die andere ist Lehrerin an einer Gesamtschule. In dem Artikel wird Wert darauf gelegt, dass Armut nicht fehlendes Geld ist, sondern mehr.

 

Der Unterzeichner hält dies für wirr. Armut ist definiert als die Abwesenheit von verfügbaren Finanzmitteln.

 

Die Frage ist allerdings: Was bedeutet dies für die Betroffenen und für deren Kinder? Nach Auffassung der beiden Damen bedeutet dies u. a., dass die Wäsche der Kinder nicht mehr gewaschen wird. Dies habe dann nichts mit Geld zu tun, sondern mit Faulheit.

 

Den beiden Damen muss vorgehalten werden, dass sie gut beraten wären, wenn sie zunächst einmal prüfen würden, warum die Kleidung der Kinder muffig riecht. Der Unterzeichner war 24 Jahre lang Rechtsberater bei Mietervereinen. Wenn Mitglieder kamen und muffig gerochen haben, lag es nicht daran, dass diese sich selbst oder ihre Kleidung nicht gewaschen haben, sondern daran, dass die Wohnung massive Feuchtigkeitsschäden hatte. Den muffigen Geruch nimmt man sofort wahr, sobald man eine solche Wohnung betritt. Aber unsere hochqualifizierten Erzieherinnen wissen natürlich: Hartz IV- Kinder stinken und sind ungewaschen und das wiederum liegt daran, dass die Eltern zu faul sind, die Waschmaschine anzustellen.

 

Zugleich beschweren sich die beiden Damen darüber, dass die Eltern von ihnen keine Tipps annehmen wollen, wo Fördermöglichkeiten etc. bestehen. Möglicherweise liegt dies allerdings auch einfach nur daran, dass die Eltern die beiden für völlig inkompetent halten und viele der von ihnen propagierten Hilfen eher Schikaneangelegenheiten sind.

 

Weiterhin wird unterstellt, dass die Leistungsbezieher von Hartz IV gerne in diesem Leistungsbereich sind und es lieben, kein Geld zu haben. Auf die Idee, dass gerade im Ruhrgebiet immer mehr gut bezahlte Industriearbeitsplätze weggebrochen sind und laufend wegbrechen und insofern die Leistungsbezieher die Zeche einer völlig verfehlten Wirtschaftspolitik zahlen, kommen die Damen wohl eher nicht.

 

Abgerundet wird das Weltbild der beiden Damen damit, dass Papa nicht gerne mit den Kindern spielt, sondern lieber mit seiner Playstation und Mama auch nicht gerne mit den Kindern redet und deshalb die Glotze als Alleinunterhalter anstellt.

 

Damit wird seitens der beiden Damen unterstellt, dass Arbeitslosigkeit nicht die Folge einer verfehlten Wirtschaftspolitik ist, sondern in der Bösartigkeit und Lieblosigkeit der Eltern begründet ist.

 

Was in dem Artikel nicht zur Sprache kommt, ist das nachts aufwachende fünfjährige Kind, das aus der Küche das Weinen der Mutter hört, weil diese schon wieder nicht mit dem Geld über die Runden kommt und nicht weiß, wie es weiter gehen soll.

 

Das Kind kann natürlich noch nicht verstehen, dass Mutter weint, weil sie in die Fänge einer völlig seelenlosen Bürokratie geraten ist und keine Perspektive sieht, wie sie da wieder herauskommen soll.

 

Das Kind kann auch nicht wissen, dass die nächste Runde um Mama zu benachteiligen, also die Erhöhung des Regelsatzes zum 01.01.2017 von € 404,00 auf € 409,00, nur durch fragwürdige Berechnungsmethoden des SPD-geführten Ministeriums für Soziales ermöglicht wurde (siehe hierzu Stellungnahme der Diakonie und der Caritas). Beide Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Erhöhung um € 5,00 monatlich nicht annähernd kostendeckend ist und € 409,00 viel zu wenig sind. Das alles weiß das Kind nicht. Das Kind weiß aber, dass es arm ist und seine Mutter traurig.

 

In einem zweiten Artikel auf der gleichen Seite der WAZ vom 26.09.2016 mit der Überschrift "Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern hält Kinder in Hartz IV" wird ausgeführt, dass der Anstieg der Kinderarmut statistische Gründe hat. In dem vorgenannten Artikel wird als Begründung für die Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern auf der einen Seite ausgeführt, es handele sich um gering qualifizierte Langzeitarbeitslose, die aufgrund ihrer mangelnden Qualifikation keine Arbeit finden. Etwas weiter vorne wird allerdings völlig zutreffend dargelegt, dass die Armut sich seit Jahren in strukturschwachen Gebieten verfestigt. Unter strukturschwachen Gebieten sind Gebiete zu verstehen, die in vergleichsweise geringem Umfang Arbeitsplätze anbieten.

 

Wenn es aber keine Arbeitsplätze gibt, ist es doch völlig gleichgültig, wie gut oder wie schlecht jemand qualifiziert ist. Im Übrigen zeigt ein Blick auf die Armutskarte Deutschlands auch sehr schnell, dass gering qualifizierte Menschen in industriellen Hotspots wie z. B. Heidelberg, Stuttgart, München etc. nur selten arbeitslos sind, wohingegen gut qualifizierte Personen im Ruhrgebiet häufiger arbeitslos sind. Nicht die Qualifikation ist insofern der Hauptgrund für die Arbeitslosigkeit, sondern das Nichtvorhandensein von Arbeitsplätzen.

 

Die Sozialberatung Ruhr e. V. hat mittlerweile über 1.400 Mitglieder. Davon sind eine Reihe Akademiker, z. T. sogar promoviert. Warum diese Personen gering qualifiziert sein sollten, ist nicht nachvollziehbar. Fakt ist jedenfalls, dass sie Langzeitarbeitslose sind.

 

Weiterhin wird in dem vorgenannten Artikel ausgeführt, dass der Anstieg der Kinderarmut statistische Gründe hat. Durch Aufstocken der Leistungen erhalten mehr Personen Leistungen nach SGB II.

 

Der vom Autor gezogene Schluss ist nicht nachvollziehbar. Wenn die Hartz IV-Leistungen, die die unterste Grenze desjenigen Betrages darstellen, mit dem man in Deutschland leben kann, nicht höher liegen, als das, was Personen durch ihre Lohnarbeit verdienen, sind nicht die Leistungen zu hoch, sondern die Löhne zu niedrig.

 

Weiterhin wird in dem Artikel ausgeführt, dass eine vierköpfige Hartz IV-Familie 2015 im Durchschnitt über ein Haushaltsbudget von € 2.031,00 verfügte. Diese Zahl ist nicht nachvollziehbar. Im Jahre 2015 betrug der Regelsatz für die beiden erwachsenen Personen je € 360,00, mithin € 720,00. Hinzu kamen je € 302,00 für 18-jährige, also insgesamt für die vier Personen also € 1.324,00. Hinzu kommt die Miete einschl. der Nebenkosten. Da die Miethöhe in Deutschland stark differiert, ist eine Vergleichbarkeit dieses Betrages nicht möglich, die anderen Beträge gelten für ganz Deutschland.

 

€ 1.324,00 für das Ehepaar und zwei 18-jährige Kinder ist ein Betrag, der nicht zu hoch, sondern viel zu niedrig ist.

 

Wer es schafft, mit diesem Betrag zwei Erwachsene und zwei fast Erwachsene vernünftig durchzubringen, ist im positivsten Sinne des Wortes ein homo oeconomicus (Ökonomie = Lehre vom Mangel).

 

Der Unterzeichner kann sich des Vorschlages nicht enthalten, manchen unserer Ruhrgebietskämmerer durch einen solchen homo oeconomicus zu ersetzen. Dies würde sicherlich zu einer Gesundung der öffentlichen Kommunalfinanzen im Ruhrgebiet führen.

 

Abschließend sei noch ein (möglicherweise ungebetener) Ratschlag an alle, die sich Gedanken über Hartz IV-Kinder machen, erteilt: Es ist sinnvoller, mit Hartz IV-Empfängern über ihre Situation zu reden, als über Second Hand Informationen, die letztendlich über drei Ecken gehen, zu versuchen, deren Situation zu verstehen. Interessierte Personen sind herzlichst eingeladen, den Dialog mit uns und unseren Mitgliedern zu führen.

 

 

 

Anton Hillebrand

 

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